Sie sind hier

Gewalt bei jugendlichen Schülern trotz rückläufiger Tendenz Anlass zur Sorge


18.03.09

Gewalt bei jugendlichen Schülern trotz rückläufiger Tendenz Anlass zur Sorge

Studie „Jugendliche als Opfer und Täter von Gewalt" mit repräsentativer Befragung 15-Jähriger

(MEDRUM) Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen e.V. veröffentlichte die Ergebnisse einer Studie zur Untersuchung der Jugendgewalt, die gestern in Berlin vorgestellt wurde. In neun Thesen werden die Befunde aus einer großangelegten Befragung präsentiert.

Im Mittelpunkt der Studie steht die Jugendgewalt. In Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium des Innern wurde eine für Deutschland repräsentative Befragung zu dieser Thematik durchgeführt. Es wurden insgesamt 44.610 Schüler im Durchschnittsalter von 15 Jahren der neunten Schulklassen aus allen Schulformen befragt. Bundesinnenminister Schäuble stellte die Studie in Berlin vor.

Präsentiert wurde ein erster Forschungsbericht zum Thema „Jugendliche als Opfer und Täter von Gewalt". In die Befragung in den Jahren 2007 und 2008 wurden auch Ergebnisse aus den Jahren 1998 und 1999 und Erkenntnisse aus Längsschnittstudien einbezogen. Dadurch wurde es möglich, Aussagen über die seit 1998 eingetretene Entwicklung von Jugendgewalt und anderer Formen von Jugenddelinquenz zu untersuchen. Die Studie gibt ferner einen ersten Überblick zu Erkenntnissen über Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus sowie Rechtsextremismus deutscher Jugendlicher. Ein Ergebnis von zentraler Bedeutung ist die Erkenntnis, dass die Entwicklung der Jugendgewalt - entgegen der polizeilichen Statistik über die Zahl registrierte Gewalttaten nicht zugenommen hat, sondern eher eine rückläufige Tendenz aufweist. Dies relativiere die Aussagekraft der Kriminalstatistik, folgern die Verfasser der Studie, zu denen neben Dirk Baier, Julia Simonson und Susann Rabold auch der bekannte Kriminologe Christian Pfeiffer gehört.

Die Herausgeber haben ihre Erkenntnisse in neun Thesen zusammengefasst:

1. Für mehr als drei Viertel aller Jugendlichen gehörte Gewalt in den zwölf Monaten vor der Befragung nicht zu ihrem persönlichen Erfahrungsbereich.

2. Zur Entwicklung der Jugendgewalt zeigen die Befunde der Dunkelfeldforschung seit 1998 insgesamt betrachtet eine gleichbleibende bis rückläufige Tendenz.

3. Die überwiegend positiven Trends zur Entwicklung der selbstberichteten Jugendgewalt in und außerhalb von Schulen finden ihre Entsprechung im Anstieg präventiv wirkender Faktoren und im Sinken gewaltfördernder Lebensbedingungen der Jugendlichen.

4. Die Befunde der Dunkelfeldforschung zum Anzeigeverhalten der Gewaltopfer relativieren die Aussagekraft der polizeilichen Kriminalstatistik in mehrfacher Hinsicht.

5. Sowohl aus Opfer- wie aus Tätersicht zeigen die Daten zur selbstberichteten Jugendgewalt, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund häufiger Gewalttaten begehen als deutsche Jugendliche

6. Der stärkste Einfluss auf Jugendgewalt geht von der Zahl der delinquenten Freunde aus, mit denen die Jugendlichen in ihrem sozialen Netzwerk verbunden sind.

7. Sowohl der Querschnittsvergleich der bundesweiten Schülerbefragung 2007/2008 als auch die Längsschnittanalyse der vom KFN seit 1998 in Großstädten durchgeführten Schülerbefragungen belegen, dass sich die Verbesserung von Bildungschancen präventiv auswirkt.

8. Der Konsum von Alkohol und illegalen Drogen, der einen eigenständigen Risikofaktor für gewalttätiges Verhalten darstellt, ist unter Jugendlichen weit verbreitet.

9. Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus und Rechtsextremismus prägen das Weltbild einer Minderheit von Jugendlichen; in einigen Gebieten fällt deren Anteil allerdings alarmierend hoch aus.

Insgesamt zeigen die Erkenntnisse, das sich die Einstellung zur Gewalt in der Tendenz positiv verändert hat. "Die Akzeptanz von Gewalt ist zurückgegangen", meinte Pfeifer bei der Vorstellung der Studie. Es gibt jedoch Erkenntnisse, die Anlass zur Sorge geben. So war für Minister Schäuble besonders erschreckend, dass fast 5% der männlichen Jugendlichen angegeben hatten, Mitglied einer rechtsextremen Gruppe oder Kameradschaft zu sein. Christian Pfeiffer teilt diese Besorgnis. Aufgrund der von den deutschen Jugendlichen berichteten ausländerfeindlichen Einstellungen und Verhaltensweisen seien rund 14,4 Prozent der befragten Jugendlichen als ausländerfeindlich einzustufen, meinte der Kriminologe.

Auch Mobbing an den Schulen ist ein ernstes Thema. In der Studie heißt es: "Zugleich weisen die Ergebnisse darauf hin, dass Mobbing an Schulen in seinen unterschiedlichen Ausprägungen ein ernstzunehmendes Problem darstellt und dass solche Verhaltensweisen gelegentlich auch von den Lehrkräften ausgehen." Dieser Befund bestätigt Erfahrungen, die immer wieder von Eltern berichtet werden. Derartige Erfahrungen gehörten zu den Gründen, weshalb zum Beispiel die Familie Gorber aus Überlingen jahrelang davon absah, ihre Kinder in die staatlichen Schulen zu schicken und sich dafür entschied, ihre Kinder selbst zu unterrichten.

Aufschlussreich sind auch familiäre Faktoren. So weist die Studie insbesondere darauf hin, dass sich die Scheidung oder Trennung der Eltern in ansteigender Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen niederschlägt. Scheidung oder Trennung wird in der Studie als ein Stressor bezeichnet, der sich negativ auf die Bereitschaft auswirke, delinquente Taten zu begehen.

Trotz positiver Tendenzen können die Untersuchungsergebnisse  kaum als Entwarnung und als Signal für ein Nachlassen der Anstrengungen gegen Gewalt verstanden werden. Dafür gibt es reichlich Gründe, insbesondere:

  • Alkohol und Drogen sind ein erheblicher Einflussfaktor für gewalttätiges Verhalten.
  • Jugendliche mit Migrationshintergrund begehen häufiger Gewalttaten.
  • Ausländerfeindliche, antisemitische und rechtsextreme Haltungen sind bei einer Minderheit verbreitet.
  • Maßnahmen zur Gewaltprävention tragen zum Sinken der Gewalttätigkeit bei.

Prävention und gezielte Maßnahmen gegen Gewalt und sind daher auch weiterhin geboten und aussichtsreich. Dafür liefert die Studie wertvolle Erkenntnisse. Sie zeigt eine Vielzahl von zusammenwirkenden Ursachen, Risiko- und Begünstigungsfaktoren auf. Ihnen könne nur mit einem breiten gesamtgesellschaftlichen Ansatz begegnet werden, so Schäuble. Er sieht dabei die Eltern in besonderer Verantwortung stehen: "Denn die staatlichen Institutionen können im Regelfall nur ergänzend oder begleitend tätig werden. Aber wir müssen aktiv Unterstützung anbieten, zu ihrer Inanspruchnahme ausdrücklich ermuntern und ermutigen."

Zu berücksichtigen ist schließlich auch, dass die Erkenntnisse aus Untersuchungen bei Jugendlichen gewonnen wurden, die in das Schulsystem eingegliedert sind. Nicht erfasst sind daher Jugendliche, die in Deutschland leben, aber keine öffentlichen Schulen besuchen. Dies dürfte die Aussagekraft der Studie zwar nicht in grundsätzlicher Hinsicht einschränken, lässt jedoch keine Aussagen über das Gewaltpotential für einen Teil von Jugendlichen zu, der mit den jetzigen Befragungen eben nicht erfasst wurde.

Ein zweiter Forschungsbericht ist angekündigt. In ihm sollen in der zweiten Jahreshälfte die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung von 8.000 Viertklässlern zu ihrer Kinderdelinquenz und ihren Opfererfahrungen dargestellt werden.

Die 132 Seiten umfassende Studie ist als pdf-Datei im Internetportal des BMI bereitgestellt -> Studie Jugendliche als Opfer und Täter von Gewalt.