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Das Märchen vom guten Herrn Müller

Karl Heines Märchenstunde

Das Märchen vom guten Herrn Müller

(MEDRUM) Es war einmal ein Mann, der hieß Müller. Er kam aus Aretsried, das lag in Bayern, also ganz im Süden. Der Herr Müller war ein ganz tüchtiger Unternehmer. Er stellte lauter Sachen her, die aus Milch gemacht werden. Solche Sachen nennt man Milchprodukte.

Na ja, die Milch selbst stellen ja die Kühe her, aber der Herr Müller ließ sie in schöne Becher verpacken, damit man sie auch in die Regale im Supermarkt stellen und verkaufen konnte. Dafür hatte Herr Müller Fabriken, in den er die Menschen arbeiten ließ.

Die Sachen, die der Herr Müller hat herstellen lassen, waren so gut, dass sogar der Herr Bohlen, das war einmal ein berühmter Musiker von der Gruppe Modern Talking, für diese Sachen Werbung gemacht hatte.

Und weil der Herr Müller ein Unternehmer war, dachte er vor einiger Zeit einmal bei sich, er müsse mal wieder etwas unternehmen und begann, eine neue Fabrik zu bauen. Und zwar baute er sie in Sachsen, das war ganz im Osten.

Eigentlich brauchte niemand eine neue Milchfabrik, weil es schon viel zu viele davon gab - und diese viel zu viele Milchprodukte produzierten - aber der Herr Müller hatte sie trotzdem gebaut.

Und weil die Leute in Sachsen ganz arm waren und keine Arbeitsplätze hatten, unterstützte der Staat Herrn Müller beim Bau der neuen Fabrik und gab ihm Geld, weil er ja in der neuen Fabrik Arbeitsplätte schuf. Arbeitsplätze hatte man nämlich schon damals im Gegensatz zu Milchprodukten nie genug.

Also hatte der Herr Müller einen Antrag ausgefüllt, ihn zur Post gebracht und abgeschickt. Einige Zeit später hatte ihm dann das Land Sachsen und wichtige Persönlichkeiten von der Europäischen Union in Brüssel einen Betrag von 70 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. 70 Millionen, das ist eine Zahl mit sieben Nullen - also ganz viel Geld, viel mehr, als in dein Sparschwein hineinpasst.

Der Herr Müller hatte damit dann seine neue Fabrik gebaut und stellte 144 Leute zum Arbeiten ein.

Alle freuten sich und riefen: „Hurra, Herr Müller!"

Nachdem die neue Fabrik von Herrn Müller nun ganz viele Milchprodukte hergestellt hatte, merkte er plötzlich, dass er diese Produkte gar nicht verkaufen konnte, weil es ja viel zu viele Fabriken und Milchprodukte gab.

Herr Müller hatte nun plötzlich zu viele Fabriken.

Na ja, eigentlich hätte er das vielleicht schon vorher wissen können, aber wahrscheinlich hat er es nur übersehen. Auch Erwachsene können nicht immer an alles denken.

Ob das die wichtigen Persönlichkeiten von der Europäischen Union und auch vom Land Sachsen gewusst hatten, das erfuhr man nicht. Diese Persönlichkeiten gehörten nämlich zur hohen Politik. Und in der Politik gab es viele Geheimnisse. Aber bestimmt wussten sie das nicht, denn sonst hätten sie ihm wohl kaum das viele Geld gegeben, um noch mehr Milchprodukte herzustellen. Denn auch die Politiker sind ja kluge Menschen.

Auch den anderen Menschen, die nichts mit Politik zu tun haben, konnte man das nicht vorwerfen. Sie wussten zwar, dass es zu viel Milch gab, aber sie wussten ja nicht, dass Herr Müller so viel Geld bekam, um noch mehr Milch herzustellen. Sonst hätten sie das bestimmt den Persönlichkeiten von der Europäischen Union und vom Land Sachsen gesagt, und die hätten dann nicht das viele Geld der Leute umsonst ausgeben müssen.

Aber ganz umsonst war das Geld nicht ausgegeben. Es war jetzt nur bei Herrn Müller und in seiner neuen Fabrik geblieben. Das Geld hatte eben nur den Ort gewechselt.

Als die neue Fabrik aber fertig war und er zu viel Milchprodukte herstellte, hatte Herr Müller ein echtes Problem. Was sollte er jetzt machen, wo er plötzlich zuviel Fabriken hatte?

Wahrscheinlich kommst du selbst drauf, wenn du einmal gründlich nachdenkst.

Richtig, du hast es richtig erraten. Ganz einfach, wenn man zu viele Fabriken hat, schließt man wieder Fabriken.

Siehst du, und genau das hatte der Herr Müller dann auch gemacht.

Herr Müller hatte zum Beispiel in Niedersachsen, das ist ziemlich weit im Norden, auch eine Fabrik. Die stand da schon seit 85 Jahren und irgendwann hatte der Herr Müller sie gekauft.

Weil er aber jetzt ja die schöne neue Fabrik in Sachsen hatte, brauchte der Herr Müller die alte Fabrik in Niedersachsen und eine andere Fabrik nicht mehr und da schloss er ganz einfach zwei Fabriken, damit es nicht zu viel Milch gab.

Leider gingen Herrn Müller dann auch 165 Arbeitsplätze verloren, das konnte er nicht verhindern. Auch die 165 Menschen, die ihre Arbeit verloren, konnten es nicht verhindern. Aber alle erhielten wenigstens eine Entschädigung dafür.

Wenn du in der Schule gut aufgepasst hast, dann hast du sicher schon gemerkt, dass dem Herrn Müller, von den zusätzlichen 144 Arbeitsplätzen, die er in Sachsen neu eingerichtet hatte, eigentlich keine mehr übrig geblieben sind. Denn wenn du von 144 die Zahl 165 abziehst, dann bleibt nichts mehr übrig, eigentlich sogar noch weniger als nichts, nämlich minus 21. Das nennt man in der Mathematik eine negative Zahl, in der Wirtschaft und in der Politik nennt man diese negative Zahlen „Verluste". Also blieben Her Müller 21 Arbeitsplätze weniger als er vorher hatte, er machte einen Verlust von 21 Arbeitsplätzen.

Das klingt komisch, ich weiß, aber so war es wirklich. Er hat 70 Millionen Euro bekommen und sogar noch Arbeitsplätze verloren.

Wenn ihr mal groß seid, dann werdet ihr das sicher alles besser verstehen, was das ist. Das ist nämlich Politik. Aber Politik können Kinder halt noch nicht verstehen. Das verstehen erst die Erwachsenen.

Aber rechnen, das kannst du auch jetzt schon. Wenn du jetzt die 70 Millionen mal durch 21 teilst, dafür kannst du auch ruhig einen Taschenrechner nehmen, dann weißt du, dass der Herr Müller für jeden Arbeitsplatz, der ihm verloren gegangen ist, 3,33 Millionen Euro bekommen hat. Das kann man so ähnlich betrachten wie eine Entschädigung. Es kommt öfters vor, in der Politik, dass Menschen für Verluste entschädigt werden.

Auch die Menschen, die jetzt nicht mehr in seinen geschlossenen Fabriken arbeiten konnten und keine andere Arbeit gefunden hatten, wurden entschädigt. Sie bekamen dann Hartz IV. Den Namen Hartz IV hast du bestimmt schon einmal gehört. Den hatte vor vielen Jahren der Bundeskanzler Schröder erfunden, weil einer seiner Freunde Hartz hieß, der auch Menschen entschädigte, nämlich solche die für den Betriebsrat von VW tätig waren.

Das Hartz IV Geld, mit dem die Menschen für den Verlust ihrer Arbeit Entschädigung erhalten, ist allerdings nicht soviel wie an den Betriebsrat gezahlt wurde, oder soviel, wie Herr Müller bekommen hatte.

Bestimmt kannst du verstehen, dass sich der Herr Müller gefreut hat, dass er mehr bekommen hat als die anderen. Er lässt sich das aber nicht anmerken, und deshalb freut er sich nur, wenn niemand hinsieht.

Aber irgendwie hat er das wohl auch verdient, der Herr Müller. Er sitzt nämlich nicht nur rum, sondern kümmert sich immer darum, dass es ihm besser geht als den anderen.

Deshalb war der auch oft ganz sparsam, der Herr Müller . . .

Vielleicht kennst du noch die Becher, in denen früher die Milch von Herrn Müller verkauft wurde. Die schmeckte gut und es passten 500 ml Milch rein, das ist ein halber Liter. Herr Müller wollte aber sparsam sein. Deswegen begann der Herr Müller seine Milch nicht mehr in Bechern, sondern in Flaschen zu verkaufen. Das Beste an ihnen war, dass Herr Müller bei jeder Flasche 100 ml Milch sparen konnte. In den Flaschen waren jetzt nur noch 400 ml Milch drin. Sie kosteten zwar dasselbe wie die Becher, aber dafür waren die Flaschen viel praktischer und sahen auch viel lustiger aus als die Becher ...

Da siehst du, wie sparsam Herr Müller war - und Sparen ist eine Tugend, das wissen wir alle.

Und weil Herr Müller so sparsam war, konnte er sein Geld und die Entschädigung, die er für die verloren gegangenen Arbeitsplätze erhalten hatte, auch gleich noch für gute Zwecke verwenden. Es wurde erzählt, dass er Geld für eine Partei gespendet haben soll, die NPD hieß, weil sie sein guter Freund gewesen sei. Aber diese Geschichte, hatten die Leute frei erfunden. So viel Gutes hat Herr Müller nun auch wieder nicht getan.

Aber sparsam war er auf jeden Fall. Deswegen soll er auch eines Tages in die Schweiz ausgewandert sein, weil er Steuern sparen wollte. Man sagte, er wollte Erbschaftssteuern sparen und sei deswegen in die Schweiz gegangen. Leider ist Sparen nicht immer so einfach. Manchmal muss man dafür sogar sein Land verlassen.

Und wenn er nicht gestorben ist, dann lebt er noch heute, der gute Herr Müller, glücklich und zufrieden, vielleicht in der Schweiz.

Wenn du das nächste Mal im Supermarkt bist, und auch heute noch Sachen von Herrn Müller im Regal und in den Kühlboxen stehen siehst, dann denke ruhig einmal daran, wenn du die Milch von Herrn Müller kaufst, dass du Herrn Müller dabei hilfst, sparsam zu sein, damit es ihm besser geht als den anderen, und dass auch du ihn entschädigst für die 21 Arbeitsplätze, die er einmal bei Schließen seiner Fabriken verloren hat, und dass du ihm hilfst, Steuern zu sparen, damit es ihm auch weiterhin gut geht, jetzt vielleicht immer noch in der Schweiz.


Wem das Märchen nicht gefällt, kann dies mailen an karl.heine

oder kann sich über einen real existierenden Müller im Managermagazin informieren: www.manager-magazin.de

Über die real existierenden Milchprodukte hat Spiegel Online informiert: www.spiegel.de