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Die milliardenschweren Notfallmaßnahmen des Staates


17.10.08

Die milliardenschweren Notfallmaßnahmen des Staates

Ein alternativloses "Alles oder Nichts-Paket"

Kommentar von Kurt J. Heinz

(MEDRUM) Gigantische Geldmengen werden von den Regierungen als Rettungspakete zusammengestellt, um das angeschlagene und ins Stocken geratene Finanzsystem wieder in Gang zu bringen. Dies werde nicht getan, um das Geld den Banken in den Rachen zu stopfen, sondern um den Bürgern und der Wirtschaft zu helfen, lauteten die Gründe, die Bundeskanzlerin Merkel für die Notmaßnahmen der Regierungen gab. Wohl war, wohl war, ...

Trotz aller glaubhaften Bemühungen unserer politischen Repräsentanten, dem Wohl des Bürgers dienen zu wollen, gibt es eine Menge Unmut bei Bürgern und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, wenn sie erleben, wie monatelang um jeden Euro gefeilscht wird, wenn es etwa um einige Euro Kindergelderhöhung geht, die gerade einmal 2 Milliarden im Jahr kostet, und wie andererseits ein 500 Milliarden Paket innerhalb von Tagen zur Rettung des Bankensystems aus dem Boden gestampft wird. Nur, so verständlich ein solcher Vergleich ist, er ist nur bedingt aussagekräftig.

Ein paar Euro mehr für ein Kind der Familie entscheiden auf kurze Sicht darüber, ob noch ein Kinobesuch möglich ist oder ob der Besuch in einem Wildpark noch in das Budget der Familie passt oder nicht, zumindest wird dies in vielen Fällen so sein. Um andere Dimensionen von unvergleichlich größerer Tragweite geht es bei den Rettungspaketen, die von den Regierungen gepackt und heute im Bundestag und Bundesrat für Deutschland geschnürt wurden. Hier steht nicht der Besuch eines Kinos oder Wildparks zur Debatte, sondern das Wohl oder Wehe einer Volkswirtschaft, die Teil im Verbund eines global vernetzten und wechselseitig abhängigen Finanz-, Wirtschafts- und Sozialsytems ist. Im Fall der Finanzkrise geht es um nicht weniger als darum, das Finanzsystem, der Blutkreislauf, der den gesamten Körper unserer Volkswirtschaft versorgt und an dem letztlich jeder einzelne hängt, vor dem Infarkt zu bewahren und damit uns alle im Schulterschluß mit der europäischen und internationalen Staatenwelt vor einem Kollaps zu retten. Legt man die Summe von 500 Milliarden Euro, mit der dies bewerkstelligt werden soll, in 100 Euro-Scheinen der Länge nach aneinander, so ergibt sich die riesenhafte Entfernung von 73 Millionen Kilometern. Das ist die halbe Entfernung von der Erde zur Sonne und reicht ebenso, die Erde fast 2000 mal mit einem solchen Euro-Band am Äquator zu umwickeln.

Die Extravaganzen und Turbulenzen des nationalen und internationalen Finanzgeschehens haben gigantische Ausmaße mit nicht mehr durchschaubaren Spekulations- und Risikogeflechten angenommen, trotz aller Warnungen, die es seit Jahren gab. Dennoch: Es wurde zugesehen, es wurde kaum etwas unternommen, oder zumindest wenig Greifbares in die Tat umgesetzt, teilweise wurde das atemberaubende Geschehen sogar aktiv politisch unterstützt.

Ein Paradebeispiel für die politische Kurzsichtigkeit und Fehleinschätzung boten die Debatte und der Beschluß des Deutschen Bundestages im Jahr 2006 über hochspekulativ und riskant agierende Hedgefonds. Es ging um die Frage, ob diese zweifelhaften Investmentkonstruktionen weiterhin in Deutschland gesetzlich zugelassen bleiben sollten. Mehr als 600 deutsche Parlamentarier sprachen sich für die weitere Zulassung aus: 614 Abgeordnete stimmten für ihre Zulassung, nur 54 stimmten dagegen, 3 enthielten sich der Stimme. Die Fraktion der FDP betonte sogar die positiven Effekte, die von Hedgefonds ausgehen können, gerade auch im Hinblick darauf, dass in Deutschland die Nutzung der Kapitalmärkte für die Altersvorsorge breiter Bevölkerungsschichten an Bedeutung zunehmen werde. Deshalb sei eine Abschaffung der Zulassung von Hedgefonds in Deutschland der falsche Weg. Die Fraktion der FDP trete stattdessen dafür ein, die Regulierung von Hedgefonds liberaler zu gestalten." Diese Erklärung ist eine Farce, wenn man bedenkt, dass besonders Hedgefonds durch ihre aggressive, risikoträchtige Anlagestrategie nicht nur beim Konkurs von Lehman Brothers dementsprechend auch riesige Milliardenverluste machten. Eine schöne Altersversorgung also für breite Bevölkerungsschichten, die die FDP damals in unmittelbare Verbindung mit Hedgefonds gebracht hat.

Es ist wohlfeil, nun - wenn auch zu Recht - die Bankmanager zu kritisieren, aber dabei nicht gleichzeitig auch zur eigenen Verantwortung für eine derartige Mitwirkung an politischen Entscheidungen zu stehen, mit denen man die Exzesse erlaubt und teilweise auch noch befördert hat. Ist etwa die FDP nun bereit, für den spätestens jetzt nicht mehr zu leugnenden Unsinn zu haften, den sie im Deutschen Bundestag seinerzeit vertreten hat? Wo bleibt die Haftung der Politik, die das alles zugelassen und sogar noch gegen warnende Stimmen gefördert hat? Sollten nicht Anleger, die für ihre Altersversorgung in Lehman Brothers Zertifikate investiert haben, am besten zur FDP-Fraktion des Deutschen Bundestages gehen und dort Schadenersatz für politische Versäumnisse und Fehlorientierungen einfordern? Wer Wähler auf dem gesetzgebendem Weg zum Zocken mit ihrer Altersversorgung ermuntert, hat spätestens jetzt verzockt. Es ist gewesen, wie es bei der Titanic gewesen war: Man hielt den Giganten "Globales Finanzmarktsystem" offenbar ebenso törichterweise für unsinkbar. Wie ehedem bei der Titanic haben auch nunmehr viele Bürger bitteres Lehrgeld für ihre Leichtgläubigkeit gegenüber zockenden Finanzmanagern und inkompetenten Politikern bezahlt, an deren Unfehlbarkeit vielleicht viele auch allzu gerne glauben wollten. Da ist man schon viel eher geneigt, die Unfehlbarkeit des Heiligen Vaters in Glaubensfragen per se in Abrede zu stellen, obwohl in diesem Fall der Glaube nicht riskant wäre.

Nicht nur die FDP hat bei Beschlüssen über Hedgefonds und Regelungen des Finanzmarktes verzockt. In der Beschlussvorlage über die Hedgefondszulassung für den Bundestag hieß es 2006: "Der Finanzausschuss empfiehlt mit der Mehrheit der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stimmen der antragstellenden Fraktion DIE LINKE., den Antrag abzulehnen." Zwar hielten die Regierungsparteien eine bessere Regulierung der Hedgefonds für notwendig, es fehlt jedoch bis heute an einer solchen Regulierung, obwohl seit dem Zeitpunkt, zu dem die Partei DIE LINKE den Antrag auf Rücknahme der Zulassung von Hedgefonds gestellt hatte, fast drei Jahre ins Land gegangen sind. Auch Bundespräsident Horst Köhler hatte schon vor drei Jahren vor den monströsen Erscheinungen des Finanzmarktes gewarnt. Notwendige Regelungen wurden jedoch auf einen Gesetzentwurf vertagt, der von den Regierungsparteien mit einem Private-Equity-Gesetz für 2008 angekündigt wurde. Die Regierung glaubte zudem genügend Zeit zu haben, vor einem solchen Gesetz erstmal eine Studie vergeben zu können. Schließlich wurde am 28. Juni 2008 dafür der Referentenentwurf eines Gesetzes in die politische Debatte eingebracht (unter dem Namen "Modernisierung der Rahmenbedingungen für Kapitalbeteiligungen").

Die jetzige Krise lässt allerdings keine Zeit für Studien, nicht einmal für eine tiefgründige Diskussion. Jetzt, wo es an allen Ecken und Enden der Finanzwelt lichterloh brennt, werden 500-Milliarden-Programme in wenigen Tagen beschlossen, ohne Studien, ohne gründliche Durchleuchtung, in einem hohen Maße Handeln ins Ungewisse und Hoffen, dass es hilft: Mit heißer Nadel gestrickt und durchgepaukt. Na also, geht doch, könnte man sagen, oder etwa nicht? Die politisch Entscheidungsbefugten scheinen zu wissen: Es geht um "Alles" oder "Nichts". Deswegen hat der Bundestag heute in zweiter und dritter Lesung verabschiedet, was er sonst in Jahren nicht zustande gebracht hätte. In der Geschichte dieser Bundesrepublik ein einzigartiger Vorgang. Das alles zeigt zwar einerseits, dass das politische System in der Not entscheidungs- und handlungsfähig ist, es zeigt aber auch die Größe der Not, die zu einer Antwort zwingt, bei der nahezu alle verfügbaren Mittel innerhalb kürzester Zeit gebündelt werden müssen, um ein Scheitern zu verhindern. Was der Bundestag heute beschlossen hat, sind nichts anderes als existentielle Notfallmaßnahmen der Überlebensgemeinschaft einer Titanic, die man über Jahre hinweg ohne Steuermann und Navigationssystem auf falschem Kurs in schwierigste Gewässer fahren ließ bis sie ins Taumeln geriet und leck schlug. Jetzt muß in einem Kampf gegen die Uhr eiligst versucht werden, die Lecks abzudichten, um ihren drohenden Untergang zu verhindern.

Alle hoffen, dass es gelingen wird, die bisherigen, und womöglich noch weitere Lecks abzudichten, aber keiner weiß mit Gewißheit, ob sich der Erfolg einstellt und was er am Ende kosten wird. Nur eines scheint allen klar zu sein: Es wird nunentweder alle Mittel sofort eingesetzt oder wir stehen vermutlich in kürzester Zeit vor dem Nichts. "Alles oder Nichts" heißt also die Devise. Dies ist kein Vabanquespiel. Denn es ist ganz so, wie es gestern vom Regierenden Bürgermeister Berlins formuliert wurde: Es ist alternativlos. Wohl zu Recht hat die Bundeskanzlerin vor einigen Tagen von der schwersten Krise seit den 20er Jahren gesprochen.

Selbst wenn die jetzigen Notmaßnahmen erfolgreich sein werden, wird Taumeln noch eine Weile angesagt sein, zumindest solange es noch nicht geschafft ist, den Schiffsriesen Globales Finanzmarktsystem auf einen Kurs führen, der ihn in sichere Gewässer bringt. Das Finanzmarktstabilisierungsgesetz ist dafür nur die grundsätzliche Bedingung. Ein durchschlagender Erfolg wird sich erst einstellen, wenn für die bisher ungezügelte Freiheit der Kapitalmärkte auch der notwendige Ordnungsrahmen, Regulierung und wirksame Überwachung vorgegeben sein wird. Dies alles war in der Vergangenheit nicht gewollt oder es wurde nur halbherzig verfolgt. Dafür zahlen nun alle - ausgenommen womöglich die Verantwortlichen, die das angerichtet und zugelassen haben - die Zeche. Aber: auch dies scheint für den Bürger alternativlos zu sein.


MEDRUM-Artikel

-> Finanzmarktstabilisierungsgesetz verabschiedet

-> Tanz ums goldene Kalb nicht wiederholen: Das Geld darf nicht zum Gott werden!

-> SPIEGEL-Gespräch mit Bundespräsident Horst Köhler zur Finanzkrise

-> Reihenweise Fehler im deutschen Finanzsystem