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Herr Bundespräsident, müsste nicht Matthias Platzeck statt Sarrazin abberufen werden?


04.09.10

Herr Bundespräsident, müsste nicht Matthias Platzeck statt Sarrazin abberufen werden?

Der eine sorgt sich um die Zukunft, der andere kritisiert die Wiedervereinigung der deutschen Nation

Ein Zwischenruf von Kurt J. Heinz

(MEDRUM) "Herr Bundespräsident, müsste nicht Matthias Platzeck statt Sarrazin abberufen werden?". So könnte eine Frage lauten, nachdem der Ministerpräsident von Brandenburg, Matthias Platzeck (SPD), den Westdeutschen bei der Wiedervereinigung Deutschlands im Magazin DER SPIEGEL eine "Anschlußhaltung" vorgeworfen hat, bei der selbst "kleinste symbolische Gesten gen Osten" gefehlt hätten. Der Osten sei "gnadenlos de-industrialisiert" worden, wird Platzeck vom SPIEGEL zitiert.

Die Äußerungen Platzecks über die deutsche Einigung 1990 erinnern an die Einverleibung Österreichs durch Adolf Hitler 1938. Hitler nannte die damals von ihm vollstreckte Erweiterung des Dritten Reiches um das österreichische Volk und Staatsgebiet den "Anschluß" Österreichs. Dabei marschierten Teile der deutschen Wehrmacht und Polizeieinheiten am 12. März 1938 in Österreich ein. Am 13. März 1938 wurde der Hitler'sche Anschluß Österreichs an die Staatsmacht des Deutschen Reiches durch das Gesetz über die "Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich" vollzogen. Auch mit dem Begriff der "De-Industrialisierung" bedient sich Platzeck einer Schreckensvokabel, deren Inhalt festgelegt und historisch belastet ist. Der Morgenthau-Plan von 1944 sah für die Zeit nach der Kapitulation des Hitler-Regimes vor, Deutschland zu "de-industrialisieren" und zu einem Agrarland zu machen, wurde jedoch nie umgesetzt.

Darf ein amtierender Ministerpräsident angesichts der Ereignisse von 1938 und der Folgejahre so über den Beitritt der neuen Länder zur Bundesrepublik Deutschland nach der Wende sprechen, wie es Matthias Platzeck getan hat? Platzeck nahm seine Äußerungen trotz Kritik keineswegs zurück, sondern bekräftigte sie.

Im Gegensatz zur gewaltsamen Einverleibung Österreichs durch Hitler-Deutschland beruhte die Wiedervereinigung Deutschlands auf der Beitrittsentscheidung der freigewählten Volkskammer der ehemaligen DDR. Die Volkskammer folgte dem mehrheitlichen Willen der Bürger Ostdeutschlands, die nach der Wende 1989 nicht länger in einem politisch unfreien und wirtschaftlich maroden Staat leben wollten. Der SED-Staat DDR hatte abgewirtschaftet und stand vor einem ökonomischen Zusammenbruch, der selbst kühne Vorstellungswelten westlicher Politiker überstieg. In Scharen begannen die Bürger der DDR wegzulaufen. Der Einigungs- und Aufbauprozeß wurde durch eine Bürgerbewegung in Gang gesetzt. Für den Aufbau der neuen Bundesländer im wiedervereinten Deutschland wurden den Bürgern aus den alten Bundesländern Transferleistungen in einer enormen Größenordnung abverlangt, seit 1990 weit über 1 Billion Euro. "Längst ist jedoch klar, daß die Aufholjagd der ehemaligen Planwirtschaft bis weit ins nächste Jahrtausend dauern wird", schrieb der SPIEGEL schon 1996. Den West-Ost-Transfer gibt es auch heute noch, allerdings werden die Zahlen schon lange nicht mehr erfasst. Unabhängig davon können sich ostdeutsche Rentenversicherte darüber freuen, daß sie infolge der deutschen Einigung bei gleichem Lohn und Beitrag immerhin rund fünf Prozent mehr Rente als im Westen erhalten, wie unter Berufung auf das Bundessozialministerium BILD im Juli 2010 meldete.

Wer bei der Wiedervereinigung Deutschlands vor dem Hintergrund der tatsächlichen Geschehnisse und der Geschichte Deutschlands dennoch von "Anschluß" und "gnadenloser De-Industrialisierung" spricht wie es der SPD-Spitzenpolitiker Platzeck tut, weckt und verstärkt - unbewußt oder gezielt - Ressentiments gegen den Wiedervereinigungsprozeß, die angesichts der historischen Ereignisse nicht gerechtfertigt sind. Sie verfälschen die Geschehnisse, stimulieren niedere Instinkte und sind politisch verantwortungslos.

Der CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe kritisierte: "Daher ist beschämend, wenn sich der einstige Bürgerrechtler Matthias Platzeck die krude Geschichtsklitterung der ewiggestrigen Linkspartei zu Eigen macht. Der Brandenburger Ministerpräsident schielt damit nur auf den Beifall seines Koalitionspartners und spielt Ost und West gegeneinander aus. Platzeck muss sich schleunigst korrigieren."

Die Äußerungen von Platzeck sind auch ein Schlag in das Gesicht der Bürger aus den alten Bundesländern, die den Landsleuten der neuen Länder solidarisch zur Seite stehen. Durch seine unhaltbaren Äußerungen hat Matthias Platzeck seiner Autorität im Amt als Ministerpräsident und dem Ansehen des so wichtigen Amtes selbst schweren Schaden zugefügt.

Wenn Thilo Sarrazin nun - außerhalb seiner Funktion als Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank - wegen einer privaten Buchveröffentlichung über die Migrationsproblematik angeblich für die Bundesbank nicht mehr tragbar sein soll, wie soll dann erklärt werden, daß Mathias Platzeck, der sich im Amt als Ministerpräsident eine schwerwiegende Verfehlung geleistet hat, dennoch tragbar sein soll? Nach der Vorstellung der Bundestagsparteien ist Sarrazins Kopf fällig, manche sagen überfällig. Bei Matthias Platzeck hingegen fordert selbst der CDU-Generalsekretär lediglich eine Korrektur.

Jeder weiß: Sarrazin kann mit Hilfe des Bundespräsidenten als Person des öffentlichen Lebens enthauptet werden, Platzeck jedoch nicht, das könnten nur die Parteien. Was ihnen im einen Fall offenkundig gelegen ist, scheint ihnen im anderen Fall jedoch unwillkommen zu sein. Mit seinem Ausscheiden als Finanzsenator in Berlin ist Sarrazin für die SPD entbehrlich geworden. Bei Platzeck sieht das in Brandenburg für die SPD und DIE LINKE anders aus (immerhin steht Platzeck für die Koalition mit der Linkspartei, in deren Reihen es führende Vertreter gibt, die ehemals für die STASI arbeiteten). Sie würden sich vermutlich schon vor einer Kritik des Bundespräsidenten Christian Wulff an Platzeck verwahren. Matthias Platzeck ist es gestattet, die Wiedervereinigung durch subtile rhetorische Anleihen aus der unseligen, nationalsozialistischen Episode der deutschen Geschichte zu diskreditieren. Ein Thilo Sarrazin darf indes nicht einmal über tatsächliche Defizite bei der Integration muslimischer Migranten türkischer oder arabischer Herkunft schreiben, ohne sich einem Rassimusvorwurf auszusetzen, der ihm ein Todesurteil beschert hat. Bettina Röhl warnte zu Recht, als sie 2009 in der WELT schrieb: "Wenn Heuchelei normal ist und die Realität verschwiegen wird, in ihr Gegenteil verkehrt wird oder völlig aus dem Blick gerät, ist eine Gesellschaft nicht viel wert. Der Weg von der Heuchelei zur Hatz, zur Menschenjagd, ist nicht weit."

Scharfrichter soll Christan Wulff spielen. Tut er das, setzt er sich dem Verdacht aus, Marionette in der Hand deutscher Parteipolitiker zu sein. Tut er es nicht, wird er zwar in deren Ungnade fallen, sich aber Achtung beim größten Teil der deutschen Bevölkerung als unabhängige Instanz und Repräsentant der Bürger erwerben. Anders als vor Pilatus, erschallt vor dem Bundespräsidenten der Ruf "Kreuzige ihn!" jedoch nur vom Hohepriester, nicht aber aus den Reihen des Volkes.


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