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Pauschale Grundrechtseingriffe wegen Corona höchst bedenklich


23.02.21

Pauschale Grundrechtseingriffe wegen Corona höchst bedenklich

Oliver Lepsius, Professor der Rechtswissenschaften und Inhaber eines Lehrstuhls "Öffentliches Recht und Verfassungstheorie", fordert zielgenauere Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung

von Kurt J. Heinz

(MEDRUM) Der Rechtswissenschaftler Oliver Lepsius erläutert im Interview mit dem WDR, warum die pauschale Anhäufung von Freiheitseinschränkungen zur vorgeblichen Rettung von Leben wegen der Corona-Pandemie unverhältnismäßig und rechtlich unzulässig ist. Das Design der Maßnahmen muss so erfolgen, dass sie das Ziel nicht pauschal, sondern tatsächlich und verhältnismäßig verfolgen, sagt der Rechtsgelehrte. 

 BildAggregation der Freiheitsverluste kein politisches Thema

Zu Beginn des Interviews mit dem WDR, das am 10. Februar 2021 unter der Überschrift "Die Einschränkung der Grundrechte" von der Journalistin Anja Backhaus geführt wurde, stellt  der Rechtswissenschaftler Oliver Lepsius von der Universität Münster (Einzelheiten zur Person im Bild links) heraus, es sei merkwürdig, dass die Grundrechte beim Design der Maßnahmen im Grunde keine Rolle spielten. Lepsius: "Politiker beteuern zwar immer, wie schwer ihnen alles falle und dann bitten sie irgendwie um Entschuldigung, aber ich habe nicht den Eindruck, dass in dem politischen Entscheidungsprozess die grundrechtliche Perspektive grundsätzlich beobachtet wird."

Wie andere Kritiker hält auch Lepsius die massiven und oft pauschal  ansetzenden Freiheitseinschränkungen für bedenklich. Er stellt konkret fest, die "Aggregation der Freiheitsverluste", die seit einiger Zeit erlitten werden, sei irgendwie kein politisches Thema und das halte er für höchst bedenklich.

 

Nicht jeder hat die Möglichkeit, sich gegen Freiheitseinschränkungen rechtlich zur Wehr setzen

Am härtesten von Freiheitseinschränkungen betroffen seien diejenigen, die über keine Lobby verfügten und nicht unmittelbar gegen Einschränkungen ihrer Rechte vor Gericht klagen könnten, weil ihnen dazu ein "subjektives Recht" fehle. Lepsius erläutert dies am Beispiel der Gewerbetreibenden, die ihr Gewerbe nicht ausüben dürfen und die sagen können, es werde in ihre Gewerbefreiheit eingegriffen. Aber ein Student, der etwa abends in Clubs gehen will, könne nichts dagegen tun. Welches Grundrecht soll der denn rügen? Ein solches Grundrecht, so Lepsius, gibt es nicht. Höchstens dann, wenn die Bewegungsfreiheit durch eine nächtliche Sperrstunde eingeschränkt werde, könne jemand die Ausgangssperre angreifen, wie es kürzlich in Baden-Württemberg erfolgreich geschehen ist. In NRW gebe es derzeit aber keine Ausgangssperre. 

Grundrhetorik ins Unfreiheitliche verschoben 

Im weiteren Verlauf des Interviews geht Lepsius auf die schieflagige Rhetorik in den Diskussionsbeiträgen der Politik ein. Er betonte, dass man sich an eine Sprechweise gewöhnt habe, die bedenklich sei. Immer wieder sei von Lockerung die Rede. Es gehe aber um die Wiederherstellung von Freiheit. Und Freiheit, so Lepsius, sei doch keine Lockerung von einer Maßnahme, sondern der Normalzustand. Das sei auch kurz nach Weihnachten zu spüren gewesen, als es geheißen habe, Geimpfte sollten keine Privilegien kriegen. Aber das seien keine Privilegien. "Wir haben sozusagen die Grundrhetorik schon verschoben ins Unfreiheitliche", so der Rechtsgelehrte weiter. Das passiert nach seiner Beobachtung schleichend, im Hinterkopf. Freiheit werde als rechtfertigungsbedürftiger Zustand erklärt. Lepsius warnt vor Sprechweisen, durch die sich die Verteilung von Freiheit und Eingriff zugunsten des Eingriffs verschiebt.

Diskursniveau auf voraufklärerischen Zustand zurückgefallen

Anja Backhaus hält Lepsius entgegen, dass es ja immer wieder um das Retten von Leben gehe. Lepsius reagiert dezidiert und nimmt differenzierend Stellung. Das sei richtig und nicht richtig, entgegnet er, denn es gebe drei Ziele, die mit den Maßnahmen verfolgt würden. Die Rettung von Leben sei ein Ziel, aber es gehe immer auch um Schutz des Gesundheitssystems vor Überlastung und Gesundheitsämter dürften nicht überlastet werden. Lepsius hebt hervor, dass dies drei recht unterschiedliche Ziele sind. Wenn es um Leben geht, dann können, so Lepsius, auch scharfe Grundrechtseingriffe zum Schutz des Lebens gerechtfertigt werden. Davon unterscheidet er beispielsweise das Schließen eines Theaters, einer Bibliothek oder eines Blumenladens. Leben werde ja nicht dadurch bedroht, dass jemand in einer Bibliothek sitzt oder Blumen kauft. Da seien viele Zwischenschritte, an die einschränkende Maßnahmen ja auch anknüpfen könnten. Lepsius folgert, dass es völlig falsch sei zu sagen, es werde Leben dadurch gerettet, dass Theater geschlossen werden, und bezeichnet dies als "Primitivkausalität aus der Steinzeit", die als Totschlagsargument verwendet würde. Als besonders unangenehm habe er es empfunden, als in der Weihnachtszeit moralisiert worden sei, wer jetzt Weihnachtseinkäufe mache, handele verwerflich, denn er spiele mit dem Leben der Senioren. Also wenn das so wäre, so Lepsius weiter, es kaufe jemand ein und hinterher sterbe jemand, das sei ein so primitives Denken, dass sich jeder aufgeklärte Mensch dagegen wehren müsse. Lepsius: "Wenn das dann auch noch moralisiert wird, mit dem Vorsatz «Ihr gefährdet Eure Mitmenschen», dann haben wir ein Diskursniveau erreicht, das doch unter jeden voraufklärerischen Zustand zurückfällt." Dass sich eine pluralistische, aufgeklärte Gesellschaft mit solchen politischen Formeln abgibt, ist für ihn unverständlich. 

Wer leben retten will, muß auch an der richtigen Stelle ansetzen

Im letzten Teil des Interviews verdeutlicht der Rechtswissenschaftler, wie vorgegangen werden müsste. Wenn es darum gehe, Leben zu retten, dann müsse da angesetzt werden, wo Leben gefährdet sei. Dann müsse zuerst geschaut werden, wer denn erkranke und wo die Wahrscheinlichkeit eines tödlichen Verlaufes einer Krankheit hoch und wo sie niedrig sei. Demnach muss auf Wahrscheinlichkeiten abgestellt und nicht die pauschale Möglichkeit des Todes in Rechnung gestellt werden. Lepsius verweist darauf, dass es ausreichend Erfahrungswerte dafür gibt. Es sei bekannt, wer die Toten seien. Daher müsste man, wenn man Leben retten wolle, auch an dieser Stelle ansetzen. Und hier zeigt Lepsius klare Defizite beim politischen Handeln auf. Denn er merkt an, er beobachte nur, dass es FFP2-Masken für die Alten seit Dezember gebe, und erst sei Mitte Dezember gebe es eine Schnelltestpflicht beim Betreten von Pflegeeinrichtungen. Das seien nun mal wirklich Maßnahmen, die Leben retten. Ein wesentlich geringeres Schutzgut sei es, wenn es um die Kapazität der Verwaltung gehe und Theater geschlossen werden würden, um die Nachverfolgungskapazität der Gesundheitsverwaltung zu schützen. Lepsius: "Und da fragt man sich natürlich jetzt auch: Muss ich meine Freiheit einschränken, damit die Kapazität der Verwaltung gesichert wird?" Für ihn stellt sich hier die Verhältnismäßigkeit anders dar.

Politik gefangen in der ungeeigneten Orientierung an Inzidenzzahlen

Was konkret von der Politik abverlangt werden muß, stellt Lepsius im Schlussteil seines Interviews deutlich heraus. Die Verhältnismäßigkeit verlangt, die Maßnahmen so zu designen, dass sie das Ziel auch tatsächlich und angemessen verfolgen können und nicht in irgendeiner theoretischen, hypothetischen Beziehung zu dem Ziel stehen, sonst könne man ja immer alles rechtfertigen, und das könne ja nicht richtig sein. Das ist natürlich jetzt, so Lepsius, eine anspruchsvollere Debatte. Stattdessen, das macht er in seiner Schlussbemerkung klar, ist die Politik gefangen in der Orientierung an Inzidenzzahlen. Das sei jedoch eine Größe, die es nahezu unmöglich mache, Aspekte wie mildere Mittel, Verhältnismäßigkeit und Design von Maßnahmen zu artikulieren. Dann sei auf einmal alles pauschal und in irgendeinem Nanobereich auch relevant, obwohl es unwahrseinlich sei, dass die Mittel ihr Ziel auch wirklich erreichen können.

Das Interview kann im Orginal auf der Internetseite des WDR gehört werden: → Grundrechte: Wie weit darf der Staat einschränken?


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Leserbriefe

„Man kann ja nicht alle Fernsehsendung sehen und Radiointerviews hören. Darum herzlichen Dank, dass Medrum auf dieses wichtige Interview auch Nicht-Hörer aufmerksam macht. Wie kostbar ist es, wenn Rechtsgelehrte auch recht Recht lehren und das Recht nicht weiter geleert wird.“