31.03.10
Schulen als sexuelle Erregungszonen eines postmodernen Relativismus?
Welchen Einfluß sollen Schulbehörden und Lernmittel auf die schulische Bildung und Erziehung nehmen?
(MEDRUM) Die Entrüstung über sexuellen Mißbrauch von Kindern in Einrichtungen kirchlicher und weltlicher Träger beherrscht seit Wochen die Diskussion. Demgegenüber wird der generellen Frage, ob sich die Erziehung der nachwachsenden Generation im staatlichen Schulsystem auf einer Wertebasis vollzieht, die mit der sexuellen Reifung von Kindern und Jugendlichen und einer positiven Entwicklung ihrer Liebes- und Bindungsfähigkeit als Erwachsene im Einklang steht, eine noch zu geringe Bedeutung beigemessen. Eine wichtige Rolle in diesem Prozeß schulischer Bildung und Erziehung spielen nicht zuletzt die verwendeten Lernmittel. Doch deren pädagogische Eignung und Wirkung ist nicht über jeden Zweifel erhaben. Der Kriminalroman von Hakan Nesser und seine Auswahl als Lernmittel durch die Hamburger Schulbehörde wirft kritische Fragen auf.
Zu den Texten, die beispielsweise in der schulischen Bildung in Hamburg verwendet werden, gehört der Roman „Kim Novak badete nie im See Genezareth" von Kåkan Nesser. Dem Vater eines 15-jährigen Schülers, der den Realschulabschluß erwerben will, wurde dieser Tage mitgeteilt, sein Sohn müsse sich für die Deutschprüfung auf die Aufgabenstellung vorbereiten, einen in sich geschlossenen, literarischen Text zu deuten. Als Prüfstoff habe die Hamburger Schulbehörde den Roman von Nesser festgelegt.
Nachdem der Vater das Buch besorgt und gelesen hatte, war er, milde formuliert, irritiert. Der Roman sei Ausdruck von Bindungs- und Hoffnungslosigkeit. Das Verhältnis der 14-jährigen zentralen Romanfigur zur Mutter und zum Vater bestehe nur aus Ablehnung und die zunächst in den Vordergrund gerückte, pubertäre Sexualität werde als rein mechanistischer Vorgang voyeuristisch abgebildet. Der Vater vermochte nicht zu erkennen, daß die Beschäftigung mit diesem Buch seinem Sohn eine vernünftige Hilfestellung für seine Entwicklung und Reifung geben könne. Es vermittle eher einen bedenklichen, postmoderntypischen Relativismus und erzeuge Orientierungslosigkeit. Dem Kindeswohl diene diese Pflichtlektüre keineswegs, meinte der Vater, der zu Inhalt und Mitteln von Nessers Buch weiter anmerkte:
"Ein vierzehnjähriger Junge, dessen Mutter gerade an Krebs stirbt, beobachtet zusammen mit einem Freund den Sexualakt seines 8 Jahre älteren Bruders mit der, körperlich sehr attraktiven und deshalb mit Kim Novak verglichenen, Verlobten eines Handballspielers. Die Szene wird ausführlich beschrieben. Sie erreicht die Qualität von Pornoliteratur. Die beobachtenden Buben masturbieren sodann, was auch beschrieben wird, und baden anschließend im See (diesen Zusammenhang dürfte der Titel kodieren). Nicht lange danach wird dieser durchaus gewalttätige Verlobte in der Nähe umgebracht. Verdächtigt wird der Bruder, wird aber aus Mangel an Beweisen freigelassen. Rund 20 Jahre später ist der Erzähler, nämlich jener damals vierzehnjährige Junge, verheiratet und hat drei Kinder, läßt sich dann aber scheiden und zieht mit der damaligen Geliebten seines Bruders, der inzwischen ausgewandert ist, zusammen. Schlußendlich erfährt der Leser, daß der damalige Mörder eben diese Erzähler ist. Nahezu alle direkte Rede ist in Fäkalsprache geschrieben, mit weiteren Flüchen verbunden. Alles wird als hoffnungslos dargestellt. Die sterbende Mutter wird abgelehnt, ebenso der Vater. Wer das Buch gleich im Bewußtsein lesen würde, daß der Erzähler ein Mörder ist, würde sofort verstehen: so kann nur ein Mörder schreiben, der von Kindheit an keine Bindungsfähigkeit gehabt hat und den keinerlei persönliche Gefühle mit den Eltern verbinden. Nur mit dem älteren Bruder scheint sich der Erzähler zu identifizieren. „Genezareth" wird die Hütte an einem See genannt, in dem die Pornoszene stattfindet und in dessen Nähe der Mord geschieht. Durch die Benennung des Hauses mit dem Namen „Genezareth" wird im Text ständig der biblische See Genezareth in Verbindung gebracht mit Pornographie und Mord. Am Rande bemerkt: Ein Alkoholiker wird 'Fusel-Jesus' genannt."
Das verfilmte Werk kommt zwar im Gewand eines Kriminalromanes daher, ist aber letztlich mehr eine Schilderung der Lebens- und Familiensituation eines 14-jährigen Knaben. Im Kern sei es eine "psychologische Studie", schreibt Wolfgang Weninger in einer Rezension für die Krimi-Couch. Er äußert sich begeistert über das Buch, das er nicht aus der Hand gelegt habe, bevor er es zu Ende gelesen hatte. Geschildert werde die Situation der 14-jährigen Hauptfigur des Romans, die mit einer Situation fertig werde, die sie stets nur als das SCHRECKLICHE bezeichne. Das Leben beschreibe der 14-Jährige mit den fünf Worten: "Krebs-Treblinka-Liebe-Bumsen-Tod." Dieser für das Fach Deutsch auserkorene Prüfungsstoff löst bei Schülern erwartungsgemäß unterschiedliche Reaktionen aus. Zu diesen Reaktionen gehören besonders auch diejenigen von Schülern, die sich sexuell gereizt fühlen und auf ihre Kosten zu kommen scheinen. Ihre Äußerungen bestätigen die Kritik des Vaters am Pornocharakter von Buchszenen; einige Beispiele:
Wer diese und andere Reaktionen von Schülern liest, fragt sich, ob dies die angestrebten pädagogischen Zielsetzungen sind, und was überhaupt mit der Verwendung dieses Romans als Lernmittel am Ende erreicht wird. Wenn der Roman eine psychologische Studie ist, wie Weninger schreibt, scheinen die Schüler daraus offenbar wenig Erkenntnisse zu gewinnen, die sie für berichtenswert halten. Sicherlich kann die Fähigkeit zur Deutung eines Textes auch an einem Roman erprobt und nachgewiesen werden, der pornographische Bedürfnisse von Schülern weckt, der sie bedient, der von Fäkalsprache strotzt und ihnen Rätsel aufgibt, weshalb der Autor den Namen des biblischen Ortes Genezareth bei der ausgiebigen Präsentation sexueller Phantasien verwendet. Doch kann kaum der Frage ausgewichen werden, ob hier Literatur nicht zu einem Transportmittel für Pornographie und schädlicher Vorstellungen über die Gestaltung einer sozialen Lebenswirklichkeit wird, die kaum Ziel schulpädagogischen Wirkens sein dürften.
Wie gerade die jetzige Mißbrauchsdebatte in das Bewußtsein gerückt hat, kann beileibe nicht alles, was selbst namhafte Schul- oder Sozialpädagogen und Schulbehörden auf die schulische Welt der Bildung und Erziehung loslassen, mit dem Siegel der Unbedenklichkeit versehen werden. Der Name Kentler steht für sich und andere. Wer prüft eigentlich im System schulischer Bildung - abgesehen von der Einzelperson "Deutschlehrer", der seine Zensur über die Deutungs- und Sprachleistungsfähigkeit des Schülers vergibt - welche pädagogischen Wirkungen ein solcher Roman erzielt? Gibt es eine Erfolgskontrolle für die Erziehungsleistung im System der schulischen Bildung oder erschöpft sich eine solche in der Vergabe von Verhaltensnoten für den Einzelschüler durch die Notenkonferenz?
Schließlich erhebt sich die Frage: Dürfen Schulbehörden Kinder und Jugendliche durch die Auswahl "literarisch-pornographischer" Texte sexuell erregen oder fällt diese Form der Erregung als "Exhibitionismus am Grünen Tisch der Schulbürokratie" nicht auch schon unter "sexuellen Mißbrauch"? Vieles spricht dafür, auch solche Entscheidungen und die dafür gültigen Leitlinien auf den Prüfstand "Runder Tische gegen den Mißbrauch von Kindern" zu stellen. Runde Tische dürften sich nicht darauf beschränken, Einvernehmen darüber zu erzielen, welche Geldleistungen einer sich mehrenden Zahl von Mißbrauchsopfern vergangener Jahrzehnte von wem angeboten werden sollen - auch wenn daran großes Interesse besteht (in Irland erhielten die Opfer durchschnittlich etwa 62.000 Euro pro Opfer). Noch wichtiger scheint die Frage zu sein, was hier und heute mit der jungen Generation in unseren schulischen Einrichtungen jenseits geltender Strafrechtsbestimmungen interaktiv auf dem Gebiet der Sexualität passiert. Dürfen Schulen beispielsweise sexuelle Erregungszonen sein, deren Art, Umfang und Niveau der Erregung Schulbehörden nach eigenem Ermessen festlegen können? So könnte eine Frage an die Verantwortlichen in der Bildungs- und Familienpolitik lauten. Doch solche Fragen hat bisher keine Partei in die Diskussion gebracht.
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Das Buch von Håkan Nesser: "Kim Novak badete nie im See von Genezareth" wurde aus dem Schwedischen übersetzt von Christel Hildebrandt und erschien im Wilhelm Goldmann Verlag, München 2003. Die Verfilmung des Romans ist in der ARD zu sehen, am Mittwoch, 31.03.10 um 00:20 Uhr im -> Ersten.
MEDRUM -> Gender-Aufruhr in Hamburg
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Buchrezension -> http://www.krimi-couch.de/krimis/hakan-nesser-kim-novak-badete-nie-im-see-von-genezareth.html