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Was tun nach einem Amoklauf wie in Winnenden?


13.03.09

Was tun nach einem Amoklauf wie in Winnenden?

Trauer, Ohnmacht, Fragen und Antworten am Tag nach einer unfassbaren Tragödie

(MEDRUM) Nach der Wahnsinnstat des 17-jährigen Tim an der Realschule in Winnenden bei Stuttgart ist die Zahl der Vorschläge groß, mit der auf ohnmächtige Fragen nach solchen Tragödien Antworten versucht werden. Die Sendung ARD-Brennpunkt interviewte gestern zum Thema "Lehrer und Schüler" die bekannte Autorin und ehemalige Rektorin Enja Riegel, die bedenkenswerte Antworten gab.

Als zurückhaltender, unauffälliger Einzelgänger, der die meiste Zeit alleine daheim am Computer verbrachte, wird der junge Täter von Personen beschrieben, die ihn schon längere Zeit kennen. Seine Leistungen an der Albertville-Realschule, die er letztes Jahr verlassen hat, seien schlecht gewesen. Eine Vorahnung über den Ausbruch einer solchen Tat hatte offenbar niemand. Die Meldungen über eine angebliche Ankündigung der Tat in einem Internet-Chat in der Nacht vor der Tat, die gestern zunächst sogar auch amtlich verbreitet wurden, konnten nicht als echt bestätigt werden. Bestätigt ist hingegen, dass der Jugendliche im Vorjahr wegen Depressionen vorübergehend in psychiatrischer Behandlung gewesen sein soll.

Schock, Trauer, Ohnmacht, Fragen und Antworten kennzeichnen die Berichterstattung über die entsetzlichen Ereignisse in Winnenden. Noch bevor die ersten Gerüchte über mögliche Motive, Auslöser und Ursachen der Tat verbreitet wurden, gerieten auch die ersten Vorschläge von Politikern und Experten für neuerliche Maßnahmen in die Diskussion, mit denen solchen Amokläufen entgegen gewirkt werden könnte, scheint es. Mehr Psychologen an die Schulen, eine weitere Verschärfung der Waffengesetze, Einbau von Sicherheitseinrichtungen an den Schulen, Verbot von Gewalt-Computerspielen, und so weiter sind einige Maßnahmen, die in ersten Reaktionen genannt wurden, um solche entsetzlichen Bluttaten zu verhindern oder eine künftige Wiederholung zumindest zu erschweren. Mit den Ursachen und Auslösern solcher Taten, wie sie sich in Erfurt, Emsdetten und nun in Winnenden ereigneten, haben solche Maßnahmen wenig oder nur bedingt zu tun.

Auch der ARD-Brennpunkt griff am gestrigen Abend das Thema "Amokläufe an den Schulen" auf. In der 15-minütigen Sendung wurde auch der Frage nachgegangen, was getan werden kann, um Warnsignale an den Schulen rechtzeitig zu erkennen. "Auf die Schule projiziert gefragt: Wie muß das Lehrer-Schüler-Verhältnis aussehen, dass solche Warnsignale auch richtig registriert werden?", fragte der Moderator Fritz Frey die langjährige Rektorin einer integrierten Gesamtschule und renommierte Autorin, Enja Riegel. Sie erklärte:" Ich glaube, dass die Schule zusehen muß, dass sie doch einen Teil Verantwortung hat. Sie hat Verantwortung für ihre Schüler. Und in erster Linie müssten Lehrer nicht nur Beratungslehrer an ihrer Schule haben oder Psychologen, sondern jeder einzelne Lehrer müsste zunächst einmal ein Erzieher sein, wissen: Ich erziehe junge Menschen, die unsicher sind, die Angst haben, die nicht beschämt werden wollen. Viel zu oft finden wir ja in Schulen das Phänomen, dass gerade schwächere Schuler oder ängstliche Schüler, dass die sich verkriechen, dass die ihre Stärken nicht entfalten können und dazu ist die Schule da. Die Schule muß den Schülern sagen: Hier, du bist hier willkommen, hier ist ein Raum, wir mögen dich, und wir lieben dich, und gleichzeitig verlangen wir etwas von dir. Der Gehirnforscher Hüter sagt, Kinder brauchen Geborgenheit und Kinder brauchen richtige Aufgaben. Eine Klassenarbeit ist keine Aufgabe, und ein Test auch nicht. Das, was sich die Kultusminister nach Pisa ausgedacht haben, das ist nicht das richtige Rezept für unsere Schulen. Unsere Schulen brauchen Lehrer, die sich um unsere Kinder kümmern, die lange mit Kindern zusammen sind und ein gutes Vertrauensverhältnis zu Eltern haben, die, wie der Kriminologe sagt, hingucken und aufmerksam sind, das sind aber nicht nur die Experten, sondern das müssen alle sein. Und gleichzeitig müssen diese Lehrer den Kindern Herausforderungen bieten, also: etwas gestalten, etwas erforschen, selber rausgehen in die Welt und Erfahrungen machen, und Abenteuer bestehen, und auch Leistungen von allen Schülern herausstellen und sagen: Du kannst was, wir schätzen dich." Enia Riegel bestätigte auf die Frage, ob mehr Schulpsychologen sinnvoll seien, dass sie Schulpsychologen für sinnvoll hält, verwies aber gleichzeitig darauf, dass es gar nicht so viele Schulpsychologen geben könne, wie es sich Lehrer oder Eltern wünschen. "Die Lehrer selber müssen ihre Arbeit machen. Lehrer sind aufgerufen, ihre Verantwortung für Schüler zu übernehmen", so Enja Riegel zum Schluß des Interviews.

ImageEnja Riegel war Leiterin der Helene-Lange-Schule in Wiesbaden.

Sie ist unter anderem Autorin des Buches

"Schule kann gelingen!: Wie unsere Kinder wirklich fürs Leben lernen".

Fischer (Tb. ; 16168),

Frankfurt (Broschiert - 19. Juli 2005), 255 S.,

ISBN 3-596-16168-1

 


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